Spiegelgene

Fortsetzung von Spiegelmatrix

Einem von Tanjas neuen Freunden droht der Tod.

Sie braucht dringend Verbündete, um ihn zu retten. Leider sind weder die dämonenhaften Karadimeo noch die menschlichen Magier geneigt, zusammenzuarbeiten.

Von einer Saraud als Anführerin wollen sie schon erst recht nichts wissen.

Wie soll Tanja unter diesen Umständen ihren Freund retten? Und was, wenn ihr Freund gar nicht gerettet werden will?

Leseprobe

 
Ich sollte nicht hier sein. Es gab nichts, das mich hätte zwingen können, nach Tarheim zurückzukehren. Abgesehen von der Abenteuerlust der Saraud. Seit mich der Spiegelzauber in den Körper einer Angehörigen dieses Volks von Auftragsmördern versetzt hatte, lebte ich sozusagen auf Adrenalin. Mein altes ich, Tanja-die-brave-Sekretärin, wäre das Risiko niemals eingegangen, in Tarheim zu spionieren . Wozu auch? Meine Freunde warteten in einer sicheren, inzwischen sogar gemütlichen Sphäre auf mich – jener Sphäre, die ich mit der Hilfe meines ums Leben gekommenen Magierfreundes Xerion erschaffen hatte. Bei dem Gedanken an ihn durchfuhr mich ein scharfer Stich. Ich vermisste ihn immer noch. 
Leises Rascheln ließ mich zusammenzucken. Mein Blick glitt über die Bücherrücken. Dicke Schwarten reihten sich neben schmalen Bändchen. Manche waren ledergebunden, mit in Gold geprägten Titeln, andere in schlichtes Leinen gehüllt. Alle sahen aus, als kämen sie frisch aus der Druckerpresse. Bei einigen konnte ich die Tareen sehen, mit denen sie vor den Spuren von Gebrauch und Zeit geschützt wurden. 
Ich machte einen Schritt auf den Schrank zu, in dem die Bücher von Meister Uliaphon aufbewahrt wurden. Seit seinem Tod wagte niemand mehr, sie anzurühren. Die Zauberer hatten viel zu viel Angst vor ihnen. Durch die Magie hatten die Bücher eine Art Eigenleben entwickelt und mit ihm so etwas wie ein Bewusstsein. 
Es war schwer zu beschreiben. Mit Sicherheit dachten sie nicht wie ein Mensch. Das in ihnen geballt Wissen fühlte sich für mich eher an wie ein Bienenschwarm. Auch jetzt füllte ein beständiges Summen meinen Kopf. Ich ließ es geschehen. Es störte mich nicht, dass die Bücher meine Gedanken lasen. Schließlich schlugen sie im Gegenzug für mich nur allzu willig ihre Seiten auf und erlaubten mir, an den in ihnen gesammelten Informationen teilzuhaben. 
Ich öffnete die gläsernen Türen des Schranks und erneuerte dabei nebenbei die Tareen, die schädliche Einflüsse fernhielten und vor unerlaubtem Eindringen schützten. Das Summen der Bücher klang zufrieden, und als ich meine Finger auf die Einbände legte, vibrierten sie leicht. Es war, als würde man eine schnurrende Katze berühren. Ein schmales Werk schmiegte sich regelrecht in meine Hand. Es wollte aus dem Regal genommen werden. Ich tat ihm den Gefallen. Es klappte sofort auf. Ich überflog die vor mir liegenden Seiten. Das Buch hatte recht. Der abgebildete Zauber würde mein Problem lösen. 
Ich plante, die Bücher in die Sphäre zu bringen. Ihr Einverständnis konnte ich spüren. Sie wünschten sich, gelesen zu werden, wollten ihr Wissen teilen und nicht in einem Schrank vor sich hindämmern, selbst wenn sie vor dem Verstauben geschützt waren. Mein Problem jedoch war, dass ich nicht alle Bücher auf einmal mitnehmen konnte und die Bücher sich wiederum weigerten, sich voneinander zu trennen. 
Ich las die genaue Beschreibung des Zaubers und fluchte leise. Die Tareen mussten an den sich gegenüberliegenden Ecken des zu transportierenden Gegenstands angebracht und zur selben Zeit aktiviert werden. Doch der Schrank war zu groß. Egal, wie sehr ich mich drehte und streckte, meine Arme reichten bei weitem nicht weit genug. Ich versuchte, die Taree in die Luft zu zeichnen und sie zum andern Ende des Kastens zu werfen. Bei vielen Kampfzaubern funktionierte diese Technik. Die kleine Transporttaree löste sich jedoch auf, lange bevor sie ihren Bestimmungsort erreicht hatte. 
„Was …?“ 
Ich wirbelte herum und riss einen Schild hoch. Der in meine Richtung geschleuderte Zauber verpuffte allerdings nicht wirkungslos, sondern wurde auf den Magier, der in der Tür stand, zurückgeworfen. Heißer Schrecken durchfuhr mich. Ich hatte nicht schon wieder töten wollen. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich den Abwehrzauber zurückgenommen, aber es war zu spät. Die reflektierte Taree traf den Magier mit voller Wucht. 
Doch er fiel nicht, krümmte sich nicht sterbend zusammen,und es lief ihm auch kein Blut aus Nase und Ohren. Er erstarrte bloß, als hätten sich unsichtbare Fesseln um seinen Leib gelegt. Seine Augen weiteten sich. Auf dem Flur wurden Stimmen laut. Ich versiegelte hastig mit einer weiteren Taree die Tür. Dann wandte ich mich wieder dem Zauberer zu. Er war Mitte oder höchstens Ende Zwanzig. Das Haar eisblau, die Augen leuchtend neongrün. Seine Robe wechselte hektisch die Farbe. Ein ganzer Regenbogen wogte in Wellen über den schimmernden Stoff. Auch wenn er seit unserer letzten Begegnung Haar- und Augenfarbe gewechselt hatte, erkannte ich ihn. Und er mich ebenfalls. 
„Du bist Deiristans Tarigi.“ 
Ich spürte eine Bewegung auf meinem Kopf. 
„Und du hast meine Drachen!“ 
„Es sind nicht deine Drachen, Sepion. Sie gehören nur sich selbst.“ 
Ich wandte mich wieder den Büchern zu. Ein dicker roter Wälzer schob sich in meine Hand. Raschelnd fielen die Seiten auseinander. Ich las die Beschreibung der abgebildeten Taree durch und musste lächeln. Die Bücher lasen tatsächlich meine Gedanken. Mit diesem unscheinbaren Zeichen konnte ich die letzten Minuten aus Sepions Gedächtnis löschen. Aber zuerst musste ich einen Weg finden, die Bücher über die Dimensionsgrenzen hinweg in die Sphäre zu bringen. 
Gleich mehrere Bücher drängten aus den Regalen. Aber keine der vorgeschlagenen Tareen erlaubte es mir, als Einzelperson den ganzen Schrank mitsamt Inhalt zu transportieren. Bei einem Objekt dieser Größe war stets zumindest ein zweiter Zauberer erforderlich. 
„Du bist keine Tarigi.“ 
Oh, Sepion hatte erkannt, dass mein Intelligenzquotient den von Gemüse überstieg. Um mich in Tarheim frei als Saraud bewegen zu können, hatte ich den Magiern vorgespielt, dass an mir eine Art magische Lobotomie vorgenommen worden war. Jetzt sah ich keinen Grund, diese Scharade aufrecht zu erhalten. Mir war egal, was Sepion erfuhr. Er würde es sowieso wieder vergessen. 
„Was hast du vor?“ 
„Einen Weg finden, die Bücher in die Sphäre zu bringen.“ Ich studierte eine weitere Taree, die von einem in hellbraunes Leder gebundenen Bändchen vorgeschlagen wurde. Aber auch sie musste an beiden Seiten des Schranks angebracht und gleichzeitig aktiviert werden und scheiterte somit an meiner mangelnden Armlänge. Ein schmierig grauer Wälzer bot mir Tareen für Körpermodifikation an. Aber ich war mir nicht sicher, ob sich die Veränderungen wieder rückgängig machen ließen und ich wollte auf keinen Fall für den Rest meines Lebens mit extralangen Armen herumlaufen. 
„Welche Sphäre?“ 
„Die, in der wir leben.“ 
„Wer ist wir?“ 
„Na, Deiristan, Sieelvie, Dorrla, Xapin, Xapion, Richard und ich. Wobei Deiristan und Sieelvie sich vor allem in Deiristans Haus aufhalten.“ 
„Und Xerion?“ 
Ich erstarrte. Der Gedanke an ihn schmerzte immer noch. Ich vermisste ihn. Seinen Eifer, seine Kreativität, seinen Humor. Ich drehte mich zu Sepion herum. 
„Er ist tot.“ 
Sepions Miene verdüsterte sich. „Hast du deshalb die Wachen getötet? Das warst doch du – oder? Wer sonst sollte den Saraud befreien wollen.“ 
„Nicht deshalb. Ich habe lediglich den gleichen Schild benützt wie gerade eben, als sie uns angriffen.“ Meine Kehle war trocken. Das Sprechen fiel mir schwer. Ich musste es ihm nicht sagen, war Sepion keine Antwort schuldig. Dennoch hatte ich irgendwie das Bedürfnis es auszusprechen. Die Tatsache, dass er alles, was ich sagte, bald wieder vergessen würde, machte es ein wenig einfacher. „Ich habe zu spät bemerkt, dass Xerion nicht innerhalb des Schildes war. Er wurde mit voller Wucht getroffen.“ 
„Und die Wachen wurden von ihrem eigenen Zauber getötet, weil der Schild reflektiert.“ 
„Dieser Schild benötigt am wenigsten Energie. Schilde, die resorbieren, sind wesentlich schwerer aufrechtzuerhalten und zu kontrollieren. Aber ich habe bereits angefangen, mit verschiedenen Schilden zu üben.“ 
Sepion spitzte nachdenklich den Mund. „Wenn die Wachen also einen Fesselungszauber statt eines Tötungszaubers benutzt hätten, hättest du sie dann auch getötet?“ 
„Natürlich nicht!“ Ich war entrüstet. Wie konnte er nur annehmen, ich würde wehrlosen Menschen Schaden zufügen? 
„Du hättest sie gefesselt zurückgelassen.“ 
Ich nickte, wünschte mir, sie hätten einen Fesselungszauber verwendet. Dann würden sie noch leben und Xerion ebenfalls. 
„Und was hast du mit mir vor? Du würdest wohl kaum so frei sprechen, wenn du vor hättest, mich einfach zurückzulassen.“ 
Ich schnaubte. „Keine Sorge. Du wirst zehn oder fünfzehn Minuten deines Lebens vergessen. Das ist aber auch schon alles. Vorausgesetzt ich brauche nicht noch eine halbe Stunde, um herauszufinden, wie ich diesen verdammten Schrank mitnehmen kann.“ 
Ein Rascheln ging durch die Bücher und die Schranktüren klapperten leise. 
„Entschuldige. Natürlich bist du kein verdammter Schrank, sondern ein ganz wunderbarer, der auf die Bücher aufpasst.“ 
Das Klappern verstummte. 
„Du redest mit einem Schrank?“ 
„Offensichtlich.“ Konnte er nicht endlich den Mund halten? Es war auch ohne jemanden, der ständig quatschte, schwer genug, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren. 
„Du warst in den letzten Wochen regelmäßig hier, nicht wahr?“ 
„Ja.“ Ich machte keinen Versuch meine Ungeduld zu verbergen, sodass meine Stimme scharf klang. 
„Du hast die Bücher beruhigt und die Tareen erneuert!“ 
„Die Tareen erneuert auf jeden Fall. Ob ich auch die Bücher damit beruhigt habe, weiß ich nicht.“ 
„Doch, das hast du, denn von meinen Kollegen war es mit Sicherheit niemand. Sie fürchten Meister Uliaphons Bücher. Es war sogar die Rede davon, sie zu vernichten.“ 
„Nein!“ Mein Entsetzen spiegelte sich im hektischen Rascheln der Bücher. Die Wände des Schranks schienen mit einem Mal dicker, das Glas wurde beinahe undurchsichtig. 
„Keine Sorge. Sie haben sich dazu entschlossen, den Raum endgültig zu versiegeln. Es könnte jedoch sein, dass auch du dann den Raum nicht mehr betreten kannst. Egal, auf welche Weise du das machst.“